Inside Cartier London

Paris, London, New York: Drei schillernde Metropolen, die untrennbar mit dem Mythos Cartier verbunden sind. Wenn wir uns das Crescendo an Nachfrage ansehen, der sich die Uhren des Hauses seit einigen Jahren erfreuen, muss man Cartier London einen besonderen Anteil daran zusprechen. Schließlich hat diese 1902 eröffnete Landesniederlassung Ikonen wie die Crash geschaffen, die Sammlern den Atem stocken lässt und Rekordergebnisse auf Auktionen erzielt. Gerne auch in siebenstelliger Höhe, die wir sonst fast ausschließlich von Vintage-Modellen der Marken Patek Philippe und Rolex gewohnt sind. Neben Crash und Cash hat Cartier London aber noch deutlich mehr zu bieten und zahllose spannende Geschichten zu erzählen. Deswegen sind wir in die britische Hauptstadt gereist, um einen exklusiven Blick hinter die Kulissen der vielleicht bedeutsamsten Landesniederlassung der Uhrmacherei zu werfen. London calling!

Inside Cartier London
175-177 New Bond Street, London

Anno 1907: Cartier New Bond Street eröffnet

Die Geschichte von Cartier London beginnt mit Eröffnung der ersten Niederlassung im Jahr 1902. Bereits sieben Jahre später zieht die Marke in die legendäre New Bond Street, in der sie auch heute noch residiert. Gleich drei Hausnummern, die durch den neoklassischen Baustil besonders imposant wirken. Dazu cartier-rote Markisen und goldene Markenschriftzüge an der Fassade. So weit, so klassisch. Auf den public floors im Inneren findet sich die typische CI von Cartier aus feinen Weiß- und Beigetönen wieder, die Sie auch in München finden werden.

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Inside Cartier London

Insider Talk: Cartier London

Für uns geht es heute allerdings durch das historische Treppenhaus ein paar Etagen nach oben. Dort präsentiert Cartier nach umfangreichen Renovierungsarbeiten einen eleganten VIP-Salon mit holzvertäfelter Bar, in dem das Geschehen des Abends stattfindet. Nicholas Foulkes, Journalist und britische Stilikone diskutiert mit Pierre Rainero, Heritage- und Stildirektor der Marke, die Bedeutung von Cartier London.

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Nicholas Foulkes im Gespräch mit Pierre Rainero, Heritage- und Stildirektor von Cartier

Die drei großen Cartier Landesniederlassungen Paris, London und New York stechen seit ihrer Gründung vor allem durch den individuellen Anspruch heraus, besonders gekonnt auf den lokalen Geschmack eingehen zu können. Dafür gibt es aus Frankreich gewissen Freiheiten, was Schmuckstücke und Zeitmesser betrifft. Prominentestes Resultat dieses gestalterischen Liberalismus ist die Cartier Crash, die 1967 zum ersten Mal auf den Markt kommt und bis heute über Cartier London vertrieben wird. Ob man bei den homöopathischen Stückzahlen überhaupt von Vertrieb sprechen kann, sei dahingestellt, jedenfalls erhalten die Auserwählten rund um den Globus ihre Allokation aus der britischen Hauptstadt.

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Die erste Cartier Crash aus dem Jahr 1967

Fünf Buchstaben für die Ewigkeit

Im Fall der Crash genügen fünf Buchstaben für die Ewigkeit. Fairerweise ist auch die Gestaltung aus der Feder von Cartier-Legende Rupert Emmerson mehr als außergewöhnlich. Dalí-esk möchte man zurufen, wenn beim Studieren der Crash die Gedanken fast automatisch in Richtung zerrinnender Zeitmesser aus „Die Beständigkeit der Erinnerung“ (Salvador Dalí, 1931) wandern. Wir können Emmerson heute nicht mehr über sein etwaiges Faible für Surrealismus befragen, aber zumindest eine andere, weit verbreitete Legende entkräften.

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Im deutschen Sprachgebrauch ist die Charakterisierung „sieht aus wie ein Unfall“ nicht unbedingt als Kompliment für herausragende Optik aufzufassen. Nun ist Geschmack die vielleicht subjektivste Sache der Welt, aber in diesem Zusammenhang hört man nicht selten über die Crash, dass ihr Design das Resultat einer deformierten Cartier-Uhr sei, die nach einem Autounfall in London zu Reparatur gegeben wurde. Nun müssen wir keine pietätvollen Gedanken an die Person und ihr wohl stark derangiertes Handgelenk richten, denn diese befremdliche Herleitung der Optik entsprang vor einiger Zeit dem Teich der Mythen und Legenden. Viel wahrscheinlicher ist die gestalterische Eigenständigkeit von Cartier London zu dieser Zeit, die Heritage Director Pierre Rainero als „Verzerrung der ursprünglichen Form, mit einer Art Ironie, als würde Cartier mit Cartier spielen“ charakterisiert.

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Jean-Jacques Cartier führt Cartier London bis 1974

Das Revival von Cartier Watchmaking

Ein großer Treiber der hohen Auktionsergebnisse, wie des Rekordpreises von $ 1,65 Mio. für eine 1967er Crash in den USA im vergangenen Jahr, ist die winzige Stückzahl, in der die historischen Modelle in den 1960er und 1970er Jahren produziert worden sind. Cartier London bleibt bis zum Jahr 1974 im Besitz der Familie (länger als Cartier Paris sowie Cartier New York) und wird bis dahin von Jean-Jacques Cartier geführt. Auch ihn können wir nicht mehr persönlich fragen, dafür aber seine Enkeltochter Francesca Cartier Brickell. Sie hat unserem Talkmaster Nicholas Foulkes einmal erzählt, dass zu Zeiten ihres Großvaters bloß ein gutes Dutzend Crash Modelle von Cartier London gebaut wurden. Kein Wunder also, dass diese so einprägsam geformten und unglaublich seltenen Preziosen heute Höchstpreise erzielen.

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Cartier Crash in Platin aus 1990

Auch unter den neuen Eigentümern gibt es in den 1980er und 1990er Jahren immer wieder seltene Einzelstücke und eine Platin Crash (1990) in limitierter Serie. Ab den späten 2010er Jahren, als Cartier schon längst der Primus inter Pares im Portfolio der Richemont Gruppe ist, sieht man die Crash immer häufiger an Handgelenken von US-Stars wie Kanye West und Jay-Z. Der popkulturelle Aufstieg des Modells fällt mit dem sehr erfolgreichen Relaunch der Santos 2018 zusammen.

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Bestseller: die 2018 komplett überarbeitete Cartier Santos

Die Aufmerksamkeit für Cartier Watchmaking steigt in den Folgejahren auch in der Bilanz der Marke spürbar. Laut dem renommierten „Swiss Watch Industry Report“ der US-Investmentbank Morgan Stanley liegt der Umsatz der Marke im vergangenen Jahr (ohne Schmuck, Parfüms und Accessoires) bei CHF 2,75 Mrd. und damit auf Platz zwei hinter Rolex. Zurück nach London und zur Crash, denn in diesem Jahr gibt es ein Sondermodell für die Boutique der New Bond Street.

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Die Cartier Crash in Platin aus 2023

Die Cartier Crash Platin 2023

In Platin, dem edelsten aller Edelmetalle, schwingt sich die jüngste Cartier Crash in ihre typische Form. Es steht zwar nicht mehr „London“ auf dem Zifferblatt, aber das „Swiss Made“ der jüngeren Modelle ist elegant an den Rand und damit aus dem Fokus gerückt. Eine formvollendete Hommage an das erste Modell aus 1967 und ein Beweis des Stellenwerts von Cartier London, die dieses Sondermodell für 43.000 Pfund an einige wenige Kunden verkaufen dürfen.

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Legendär: die Cartier Pebble aus 1973

Neben der Crash stammen auch Raritäten wie die Pebble (1973) und die Maxi Oval Modelle (1969) von Cartier London. Wer die seltenen Stücke aus dem Museum heute betrachtet, fühlt sich wie auf einer Zeitreise in das Schlaraffenland des Uhrendesigns. Dass Cartier seine Ikonen Stück für Stück wieder ins hier und jetzt holt, sorgt, neben dem großen kommerziellen Erfolg der aktuellen Santos- und Tank-Modelle, für mehr Bewusstsein der Marke in den Köpfen spannender Sammler rund um den Globus. Dass dieses Revival der Uhrmacherei von Cartier großen Anklang trifft, überrascht auch Pierre Rainero nicht:

„The essence of Cartier is producing elegant objects to put on your body.”

Wer möchte da widersprechen?

Weitere Informationen zu Cartier Watchmaking finden Sie auf der Seite der Maison hier


Text & Bilder ©David Schank, Watchlounge