Carole Forestier-Kasapi ist die Frau, die Cartier zum Hersteller kompliziertester und in höchsten Fachkreisen anerkannter mechanischer Uhren machte. Als Cartier-Chef Bernard Fornas sie 2005 – da war sie schon im Unternehmen – zur Chefin der Entwicklungsabteilung der Manufaktur in La Chaux-de-Fonds machte, war das Haus längst berühmt für seine Juwelen, und auch für legendäre Uhrenmodelle wie die – 2017 hundertjährige – Tank, die Santos oder die Baignoire. Es fehlte aber die Anerkennung auf dem Gebiet allerhöchster Uhrmacherkunst. Das sollte sich schnell ändern.
Unter Forestier-Kasapi, Mutter von zwei Kindern, die selbst einer Familie von Uhrmachern entstammt, erblickten mittlerweile 48 Uhrwerke und zwei Concept Watches das Licht der Welt: Ihre Babys haben so schöne Namen wie Rotonde de Cartier Grande Complication oder Astrotourbillon Mystérieux. Aber auch neue Stil-Ikonen entstanden, wie die Ballon Bleu, die Clé de Cartier und die Calibre. Auf dem SIHH 2016 in Genf wurde mit der Drive de Cartier gerade wieder ein neues Modell vorgestellt, eine Formuhr in markanter Kissenform, die es von der relativ schlichten bis zur Flying-Tourbillon-Variante gibt.
Wir sprachen beim Besuch in La Chaux-de-Fonds mit Carole Forestier-Casapi über ihre Arbeit für Cartier, die Herausforderungen gestern und heute, und ihre größten Erfolge.
Watchlounge: Madame Forestier-Kasapi, als Sie vor 15 Jahren bei Cartier anfingen, hätten Sie sich da vorstellen können, einmal verantwortlich für all die schönen Uhren und Werke zu sein?
Carole Forestier-Kasapi: Oh nein! Bei den Uhrwerken fingen wir damals quasi bei Null an, es gab ja keine interne Expertise auf diesem Gebiet, wir ließen alles extern produzieren.
Gab es überhaupt Frauen, die Uhrwerke entwickelten?
Nicht wirklich. Alles, was irgendwie mit Ingenieurtätigkeiten zu tun hat, ist doch eher männlich, egal, ob in der Uhrmacherei oder in anderen Bereichen.
Was dachten Sie dann also, als Bernard Fornas Ihnen diese Position vorschlug?
Natürlich dachte ich mir ‚Was mache ich bei Cartier, wie kann ich dem Unternehmen nützen, und wofür brauchen sie mich?’ Es gab keine interne Entwicklungsabteilung, die Herausforderung war immens. Das habe ich als große Chance betrachtet, die mir bestimmt nicht zweimal im Leben gegeben würde.
Sind Sie immer noch glücklich mit Ihrer Entscheidung?
Es war ein langer Weg, aber ein sehr spannender. Cartier ist eine Marke, die unglaublichen Raum für Kreativität bietet, das ist ein wahres Glück.
Erinnern Sie sich noch an Ihr erstes Werk für Cartier ?
Ich glaube, das war das Basiswerk 1904 MC, ein einfaches Automatikwerk. Damit haben wir den Grundstein gelegt.
Was gab es noch für Hürden zu nehmen ?
Die größte Herausforderung nahm wohl Bernard Fornas an, der den Mut hatte, zu sagen: ‘Ich habe eine Vision für dieses Haus, wir hören auf, mit den anderen zu arbeiten und machen alles bei uns.’ Und dann die Mittel dafür bereitzustellen. Sie haben ja gesehen, mit was für einer Mannschaft wir hier arbeiten. Das hat die Marke tiefgreifend verändert.
Wie hoch ist heute bei Cartier das Verhältnis von mechanischen zu Quarzuhren ?
60 zu 40. Vor zwanzig Jahren war es umgekehrt. Eher noch schlimmer.
Wünschen sich inzwischen auch mehr Damen mechanische Uhren ?
Da gibt es große regionale Unterschiede : Asiatinnen wollen zum Beispiel ausnahmslos Automatikmodelle, wogegen Europäerinnen mehr am Stil des Hauses interessiert sind als am Innenleben der Uhr.
Was ist heute Ihre größte Herausforderung ?
Jahr für Jahr Jahr mit etwas Neuem zu kommen, neue Dinge zu kreieren, die immer stärker sein müssen. Das ist schwierig.
Und Sie müssen ja heute schon fünf Jahre weiter denken.
Genau. Wir haben einen Fünfjahresplan.
Was kommt eigentlich zuerst : Das Briefing vom Marketing, oder das Design für die Uhr ?
Das Briefing vom Marketing.
Und der Name der Uhr ?
Kommt ganz am Schluss. Zwei Monate vor dem SIHH.
Wie sieht denn so ein Briefing überhaupt aus ?
Das ist sehr unterschiedlich. Es kann zum Beispiel heißen : ‚Wir haben ein mysteriöses Pendel gemacht, das wollen wir jetzt in einer Uhr.’ Oder : Das soll in dieses oder jenes Gehäuse passen, zu diesem oder jenem Kundenkreis. Im Briefing steht dann, welche Stückzahl angedacht ist, welcher Preis, auch das ist ein wichtiges Element.
Hört sich ziemlich präzise an.
Im Normalfall, ja. Es kann aber auch heißen : ‚Carole, erfinde uns das Tourbillon neu.’ Weil man, sagen wir 2018, vielleicht ein neues Masterpiece vorstellen will.
Ich nehme an, Sie finden diese Art von Briefing spannender ?
Das sind zwei völlig verschiedene Stilübungen, beide sind interessant, und bei beiden können Sie dazulernen.
Kreiert eine Frau eigentlich anders als ein Mann ?
Das weiß ich nicht. Ich denke, ich kreiere vor allem mit meinem Uhrmacherkopf. Dazu gibt es Techniken, um kreativ zu sein, die kann man sich aneignen. Und man braucht eine bestimmte Stimmung. Es gibt Tage, an denen braucht man es gar nicht erst zu versuchen, da wird das nichts.
Die Uhren werden immer komplizierter. Wird Ihre Arbeit das auch ?
Ja, aber wir haben auch viele neue technische Möglichkeiten und Werkzeuge, die uns helfen, die Grenzen immer weiter hinauszuschieben.
Welche ist Ihre Lieblingskomplikation ?
Das Tourbillon. Selbst wenn wir davon im Moment etwas zu viele sehen, es ist eine universelle Komplikation, die jeden berührt.
Wenn Sie all Ihre Cartier-Jahre Revue passieren lassen, welches ist Ihre schönste Erinnerung ?
Die Siege, die ich mit meiner Mannschaft errungen habe. Ich glaube nicht ans Individuum, ich glaube, dass das Team stärker ist als alles andere. Um eine gute Uhr zu entwickeln, brauchen Sie einen guten Ingenieur, einen guten Designer, einen guten Uhrmacher etc. Insofern war vielleicht das schönste Erlebnis, als ich mit der ganzen Mannschaft die Zulassung unseres ersten selbst entwickelten Uhrwerkes gefeiert habe. Ja, das war es.
Interview: Elke Reinhold, Editor in Chief Watchlounge
Cartier 2016: Jedes Modell ein Stück Zeitgeschichte